Das Muharrem-Fasten wird nach dem arabischen Kalender jährlich ca. elf Tage früher als im Vorjahr abgehalten und beginnt mit dem islamischen Neujahrstag am 1. Muharrem. Da sich das Fasten nach dem arabischen Kalender orientiert, ist die Fastenzeit beweglich (Beginn 20 Tage nach dem 1. Opferfesttag). Denn mit diesem beginnt (vom 07.07 bis 18.07.2024) – für Millionen von Menschen rund um den Globus und hunderte tausende in Österreich, Deutschland und der Schweiz eine Trauer- und Fastenzeit.
Obwohl alljährlich Ihre alevitischen Nachbarn 12 Tage lang zur Besinnung und zum Gedenken an das Leid einer heiligen Familie Enthaltsamkeit üben und tiefe Trauer leben, wissen die meisten kaum etwas über ihren Glauben.
Durch die zwölftägige Trauerzeit zeigen Alevitinnen und Aleviten ihre Verbundenheit mit Imam Hüseyin, der im Jahre 680 n. Chr. in Kerbela ermordet wurde. Um seinen Leidensweg nachzuempfinden, wird während dieser Trauertage gefastet und Enthaltsamkeit geübt. Später wurden auch weitere Nachkommen der Prophetenfamilie (Ehl-i Beyt) seitens der Omaijadendynastie ermordet. Zu Ehren weiterer Imame dauert deswegen diese Fasten- und Trauerzeit 12 Tage.
Der beispielhafte Widerstand von Imam Hüseyin gegen die Ungerechtigkeit nimmt in Anatolien bei der Erziehung der Kinder einen großen Platz ein. Imam Hüseyins Widerstand gegen die Ungerechtigkeit bzw. sein Gerechtigkeitssinn wird alevitischen Kindern in Form von ethischen Maximen gelehrt. Jedes Jahr gedenken Alevitinnen und Aleviten dem Martyrium von Hüseyin bzw. dem Massaker von Kerbela. Der omaijadische Kalif Yazid I, der das Massaker von Kerbela anstiftete, wird zum Symbol des Bösen und wird deswegen von der alevitischen Gemeinschaft verflucht.
Nach der zwölftägigen Trauerzeit folgt dann am 13. Tag des Muharrem (am 19. Juli 2024) ein Tag, an dem Alevitinnen und Aleviten Gott danken.
Sie danken Gott dafür, dass Imam Zeynel Abidin Kerbela überleben konnte und somit die Nachkommenschaft Alis – das Weiterleben des heiligen Wissens – sicherte. Im Unterschied zu iranischen Schiiten, fügen sich anatolische Alevitinnen und Aleviten im Monat Muharrem keine körperlichen Schmerzen zu und stellen das Martyrium von Kerbela auch nicht als Schauspiel dar.
Alevitinnen und Aleviten setzen das Muharrem-Fasten mit Kerbela, Fasten und Trauer gleich. Das Nachempfinden von Kerbela im Monat Muharrem ist für die Gläubigen eines der wichtigsten Grundpfeiler des Alevitentums. Das Fasten stellt keine absolute Pflicht dar, aber je nach Wunsch, körperlicher Verfassung und persönlichen Umständen kann zwölf Tage lang gefastet werden. Nach dem letzten Mahl des Abends wird bis Sonnenuntergang des folgenden Tages nichts mehr gegessen und getrunken. Das Essen am Abend sollte sehr einfach gehalten sein, weil die Enthaltsamkeit und die Kontrolle über den eigenen Geist und Willen dabei eine große Rolle spielen.
Auch darf während es Fasten weder Fleisch verzehrt noch Blut vergossen werden. Streitigkeiten müssen vermieden, Gefühle Dritter nicht verletzt, Lebewesen kein Leid zugefügt werden. Diese Maxime gilt nicht nur für die Fauna, sondern auch für die Flora. Es dürfen keine Äste vom Baum abgebrochen, keine Pflanzen gepflückt werden.
Zur Muharrem-Zeit halten sich Gläubige von jeglichem Vergnügen fern (keine Hochzeit, Verlobung usw.). Im Vordergrund stehen hierbei die Solidarität mit Bedürftigen und die Hervorhebung des Miteinanders. Die alevitischen Werte „achte auf deine Hände [das, was du machst], achte auf deine Zunge [das, was du sagst] und deine Lende [keine Unzucht]“ werden zu dieser Zeit in besonderer Weise thematisiert und angesprochen. Es wird nochmals verdeutlicht, wie wichtig es, ist im Einvernehmen mit seiner Umwelt und seinem Umfeld zu leben.
Alevitische Gemeinden schaffen während der Fastenzeit in den Gemeindezentren und Cem-Häusern für ihre Mitglieder die Möglichkeit des gemeinsamen Fastenbrechens. Mindestens eine/ein Geistliche/-r ist immer anwesend und beantwortet Fragen zum Thema „Muharrem“. Das Gemeinschaftsgefühl und Miteinander wird dadurch nochmals verstärkt.